Was kann man einigen verbreiteten "Mythen" zu sexualisierter Gewalt entgegnen?

Hier finden Sie verbreitete Ansichten und Einstellungen rund um das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, die nicht unwidersprochen bleiben müssen. Was man ihnen entgegnen kann, steht in den kurzen Texten unter den jeweiligen "Mythen".

Es ist ein Mythos,

...dass sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ein krankes Verhalten ist.

Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist mit vielen Tabus behaftet. Oft ist von Pädophilen die Rede, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Damit ist zumeist gemeint, dass diese Menschen »krank« sein müssen und nicht anders können. Die meisten Täter*innen sind jedoch nicht krank, auch nicht psychisch. Diese Betrachtung als Krankheit ermöglicht eine Distanzierung: Das Thema wird aus der »normalen« Gesellschaft ausgelagert. Diese Sichtweise kann unaufmerksam machen für Anzeichen von sexualisierter Gewalt im eigenen Umfeld.

...dass die meisten Täter*innen ihre Triebe nicht kontrollieren können, dass es sie überkommt.

Sexualisierte Gewalt ist keine Form der Sexualität, sondern eine Sexualisierung von Gewalt. Täter*innen treffen die Entscheidung, Gewalt auszuüben.
Die allermeisten Taten werden nicht spontan begangen, sondern strategisch vorbereitet: Nach der Überwindung eigener innerer Hemmungen treffen Täter*innen Vorbereitungen, um einem Kind sexualisierte Gewalt anzutun. Dazu gehört, nicht nur das betroffene Kind, sondern auch sein schützendes Umfeld zu manipulieren. Eine solche Manipulation kann z. B. darin bestehen, das elterliche oder kollegiale Vertrauen zu gewinnen, ein Kind zu desensibilisieren, zu bedrohen oder einen Geheimnisdruck aufzubauen oder auch gezielt einen pädagogischen Beruf oder ein Ehrenamt zu ergreifen.

...dass die Täter*innen früher selbst Opfer von sexuellem Missbrauch waren.

Es trifft nicht zu, dass die meisten Täter*innen früher selbst Opfer von sexualisierter Gewalt waren. Jedoch waren viele in Kindheit und Jugend vielfältigen Formen von Gewalt – auch sexualisierter Gewalt – ausgesetzt. Manche Täter*innen behaupten, auch als Kind missbraucht worden zu sein, in der Hoffnung, dass sich dies im Zuge eines Strafprozesses positiv auf ihr Strafmaß auswirkt.

...dass von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder später selbst Täter oder erneut zum Opfer werden.

Leider ist dieser Mythos so weitverbreitet, dass auch Kinder ihn kennen. Insbesondere betroffene Jungen fürchten, als zukünftige Täter gesehen zu werden oder dazu zu werden. Mädchen wiederum sind mit der Vorstellung »einmal Opfer, immer Opfer« konfrontiert. Auch wenn es manchmal solche Fälle gibt, gilt: die allermeisten Betroffenen üben später keine sexualisierte Gewalt aus. Es gibt auch keine automatische »Opferkarriere«. Diese Vorstellungen erschweren betroffenen Kindern und Jugendlichen die Verarbeitung.

...dass es Kinder vor Gewalt schützt, wenn sie kein Wissen über Sexualität haben.

Das Gegenteil ist der Fall: Fehlendes Wissen über Sexualität ist ein Einfallstor für Täter*innen. Sexuell aufgeklärte Kinder können leichter über sexualisierte Gewalt sprechen und sich Hilfe holen. Sexuelle Bildung macht Kinder nicht neugierig auf Sex, sondern stillt den Wissensdurst und macht sie weniger anfällig für Menschen, die ihnen scheinbare Antworten auf ihre Fragen zu Sexualität anbieten – auch im Internet.

...dass die größte Gefahr von Unbekannten und Fremden ausgeht.

Zwischen 80 und 90 % aller Fälle passieren im sozialen Nahbereich. Viele Kinder und Jugendliche erfahren sexualisierte Gewalt also durch Familienangehörige oder Freund*innen der Familie. Andere durch erwachsene Bezugspersonen oder andere Jugendliche, z.B. in Sportvereinen, in der Kita oder in der Schule. Das bestehende Vertrauen wird ausgenutzt. Dieser Mythos kann sehr schädlich wirken: er macht unaufmerksam für Anzeichen im eigenen Umfeld und erschwert es, Kindern zu glauben, wenn sie von sexualisierter Gewalt durch Familienmitglieder oder Bekannte erzählen.

...dass alle Betroffenen traumatisiert sind und eine Therapie brauchen.

Viele Betroffene von sexualisierter Gewalt werden durch diese Erfahrung traumatisiert, aber längst nicht alle. Welche Folgen die Erfahrung hat, ist sehr unterschiedlich und hängt ab von verschiedenen Faktoren wie dem Alter der Betroffenen, Intensität und Dauer der Taten, Nähe zum oder zur Täter*in sowie den Ressourcen der Betroffenen. Ein tröstendes, glaubendes und stützendes Umfeld gilt als wichtiger Faktor, um Gewaltfolgen zu reduzieren und die Gewalt zu verarbeiten.

In vielen Fällen ist eine Begleitung und Unterstützung durch eine Fachberatungsstelle, Psychotherapeut*in und/oder Selbsthilfegruppe ratsam und hilfreich. Betroffene haben teils aber auch ganz unterschiedliche, für sie passende Formen der Verarbeitung gefunden.

...dass Männer, die Jungen missbrauchen, mehrheitlich schwul sind.

Auch Jungen widerfährt sexualisierte Gewalt mehrheitlich von Männern und männlichen Jugendlichen. Der größere Anteil der Männer, die Jungen sexualisierte Gewalt antun, ist heterosexuell. Die Ausübung von sexualisierter Gewalt ist keine Frage der Sexualität oder sexuellen Orientierung. Dass dieser Mythos sich so hartnäckig hält, ist Ausdruck von gesellschaftlich verankerter Schwulenfeindlichkeit.

...dass sexualisierte Gewalt durch Männer Jungen schwul und Mädchen lesbisch macht.

Manche Jungen, aber auch Mädchen, die Gewalt durch Männer erfahren, haben Angst, dadurch »homosexuell gemacht zu werden«, oder denken, ihre sexuelle Orientierung sei das Ergebnis von Gewalt. Die gesellschaftliche Abwertung von homosexuellen Lebensweisen und die Idee vom »beschädigten« Opfer spielen hier zusammen. Das kann die Entwicklung und Akzeptanz einer eigenen selbstbestimmten sexuellen Identität sehr belasten.

...dass manche Kinder die Täter*innen zu ihren Taten provozieren (sogenannter »Lolita«-Mythos).

Dieser Mythos führt zu einer Schuldverschiebung auf die Opfer und zu einer Absolution der Täter*innen. Insbesondere Mädchen wird eine Macht unterstellt, die sie gegenüber Erwachsenen nicht haben. Es handelt sich um eine Projektion: Täter tun alles, um Kinder zu scheinbar freiwilligen Handlungen zu bringen.
Dort, wo Kinder und Jugendliche sich ausprobieren, ihre Wirkung testen (z. B. flirten), sind Erwachsene in der Verantwortung, respektvoll Grenzen zu setzen und diese Verhaltensweisen nicht zu beantworten. Manche Kinder haben als Folge sexualisierter Gewalt gelernt, sich sexualisiert gegenüber Erwachsenen zu verhalten. Sie müssen erleben, dass Erwachsene dieses Verhalten nicht erwarten und ausnutzen.

...dass Mütter merken, wenn der Partner das Kind missbraucht.

Wenn der Partner einer Mutter dem (gemeinsamen) Kind sexualisierte Gewalt antut, ist die zentrale Strategie oft, ihre Wahrnehmung zu vernebeln, sodass sie es nicht mitbekommt. Eine Frau, die ihrem Partner vertraut und dementsprechend nicht mit solchen Taten rechnet, wird leicht Anzeichen übersehen oder fehldeuten. Es stimmt also nicht, dass gute Mütter alles mitbekommen müssen.

Es gibt auch Mütter, die die sexualisierte Gewalt bemerken oder davon erfahren und nicht eingreifen, die Realität verleugnen und ihr Kind der Lüge bezichtigen. Das kann verschiedene Gründe haben: soziale und ökonomische Abhängigkeiten, den »Schein-wahren-Wollen« oder eigene unbearbeitete Gewalterfahrungen.
Wichtig ist zu bedenken, dass Müttern andererseits oft unterstellt wird, sie dächten sich sexualisierte Gewalt nur aus, um ihrem (Ex-)Partner zu schaden, wenn sie versuchen, ihre Kinder zu schützen.

...dass sexualisierte Gewalt das Schlimmste ist, was einem Kind passieren kann.

Die Frage nach dem »Schlimmsten« ist im Kinderschutz nicht hilfreich, weil alle Kindeswohlgefährdungen (sexualisierte Gewalt, Misshandlung, Vernachlässigung) für Kinder belastend und schädigend sind. Oftmals geht die sexualisierte Gewalt auch mit Misshandlung und/oder Vernachlässigung einher. Richtig ist, dass sexualisierte Gewalt stärker tabuisiert wird und damit schwerer vorstellbar und besprechbar ist als andere belastende Kindheitserfahrungen. Der genannte Mythos führt eher zum Wegsehen als zu Aktivität, weil die sexualisierte Gewalt so überwältigend wirkt.

...dass Frauen ausschließlich Jungen missbrauchen.

Von sexualisierter Gewalt durch Frauen sind sowohl Jungen als auch Mädchen betroffen. Mädchen werden als Opfer von Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet. Der heterosexistische Blick dominiert: »Was soll eine Frau von einem Mädchen wollen?« Jungen hingegen wird das Opfersein häufig abgesprochen. Stereotype zur männlichen Sexualität führen dazu, dass die an ihnen verübte sexualisierte Gewalt durch eine Frau als Verführung umgedeutet wird, als sexuelle Erfahrung und Einführung in die Sexualität. Die Forschung geht davon aus, dass der Frauenanteil der Täter*innen 10 bis 20 % beträgt.

...dass es bei Prävention vor allem darum geht, dass Kinder lernen, »Nein« zu sagen.

Das wichtigste Ziel der Prävention ist, dass Erwachsene Kinder und Jugendliche schützen: durch eine präventive Alltagsgestaltung und – in Einrichtungen wie Schulen – durch die Entwicklung von Schutzkonzepten gegen sexualisierte Gewalt. »Nein« zu sagen ist nicht die Aufgabe von Kindern. Es ist aber richtig, Kinder darin zu bestärken, dass sie eigene Gefühle und Grenzen wahrnehmen und behaupten können. Es ist wichtig, Kindern nicht zu vermitteln, erfahrene Gewalt sei ihre Verantwortung, weil sie nicht »Nein« gesagt hätten.

...dass ein falscher Verdacht ein ganzes Leben zerstören kann und dass es sich bei Anschuldigungen meistens um Falschbeschuldigungen handelt.

Das Streuen von Gerüchten ist unverantwortlich. Das Abklären von Hinweisen und Melden von Verdachtsmomenten ist das einzig Richtige, um möglicherweise Betroffenen zu helfen. Das Thema des falschen Verdachts findet unangemessen viel Raum in der Diskussion um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Das lenkt von den Folgen für Betroffene und der großen Häufigkeit von sexualisierter Gewalt leider ab. Die verstärkte Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend in der letzten Zeit erfolgte, weil unzählige betroffene Mädchen und Jungen sexualisierte Gewalt erleben mussten und damit allein gelassen wurden. Nichtsdestotrotz sollte ein Handlungsleitfaden für Verdachtsfälle immer ein Rehabilitationsverfahren enthalten, das zur Anwendung kommt, wenn ein Verdacht ausgeräumt werden konnte.

...dass man sich bei einem Verdacht am besten auf die eigene Menschenkenntnis verlässt.

Nein, Menschenkenntnis oder Intuition sind schlechte Maßstäbe, wenn es darum geht, ob man jemandem sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zutraut. Denn zu den typischen Täter*innenstrategien gehört es, die Wahrnehmung des Umfeldes zu manipulieren und einen guten Eindruck zu machen, sodass niemand einem diese Tat zutraut. Es ist sinnvoll, sich Unterstützung und Beratung bei einer auf das Thema spezialisierten Fachberatungsstelle oder beim Hilfetelefon unter 0800 22 55 530 zu holen.

...dass es eine Anzeigepflicht bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt.

Anders als in einigen anderen europäischen Ländern muss in Deutschland niemand eine polizeiliche Anzeige machen, wenn er von sexualisierter Gewalt weiß oder einen Verdacht hat. Wird eine Anzeige erstattet, müssen die Strafverfolgungsbehörden jedoch ermitteln (Offizialdelikt), das heißt, eine Anzeige kann nicht zurückgezogen werden. Wenn Betroffene oder ihre Sorgeberechtigten eine Anzeige erwägen, ist unbedingt rechtsanwaltlicher Rat und ggf. weitere professionelle Unterstützung zu empfehlen, weil ein Ermittlungs- und Strafverfahren sehr belastend sein kann. Der Mythos von der Anzeigepflicht beruht auch auf der Annahme, dass nur durch eine strafrechtliche Abklärung der Schutz des Opfers hergestellt werden könne. Dies gelingt aber in erster Linie durch Maßnahmen des Kinderschutzes, wie die Einschaltung des Jugendamts und ggf. des Familiengerichts.